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Donnerstag, 24. November 2011

Neues Kapitel online

Kapitel 1 ist jetzt online: Christins erste Begegnung mit Connor. Viel Spaß beim Lesen!

Kapitel 1

1
ES WAR DER ERSTE RICHTIG WARME TAG des Jahres, als sie ihm begegnete. Sie war in der Stadt unterwegs. Nach ihrer erfolgreichen Einkaufstour durch die zahlreichen Boutiquen, die sie mal wieder aus der alltäglichen Routine und Langeweile herausreißen sollte, brauchte sie dringend einen Kaffee. Bepackt mit Einkaufstüten hielt sie am Marktplatz nach einem freien Tisch in einem der drei Straßencafes Ausschau. 
Sie war ein Coffeeholic, sie trank Kaffee, wann immer sich die Gelegenheit bot. Dafür hatte sie sich das Rauchen schon vor Jahren abgewöhnt. Aber auf alle Laster konnte und wollte sie einfach nicht verzichten. Sie hatte auch noch genug davon: Rotwein, Schokolade, Baileys … .
Alles besetzt, weit und breit kein freier Tisch. Wo kamen nur all die jungen Leute her, die cool mit ihren Ray-Ban-Sonnenbrillen-Plagiaten an den Tischen saßen, rauchten und Milchkaffee schlürften? Fast wollte sie es schon aufgeben, als sie im Außenbereich ihres Lieblingscafes Milk and Coffee einen Tisch entdeckte, an dem nur ein Mann saß. Der Typ lümmelte ziemlich lässig mit ausgestreckten Beinen und verschränkten Armen auf dem Stuhl herum; fast sah es aus, als sei er eingenickt. Sie zögerte, aber die Lust auf einen Kaffee war stärker. Sie zwängte sich mit den Tüten an den anderen Tischen vorbei und fragte mit einem gewinnenden Lächeln: »Entschuldigung, ist hier noch ein Platz frei?«
»Excuse me?« 
A-ha, ein Ausländer also. Engländer oder Amerikaner?
»May I join you?« Sie deutete auf den freien Platz. 
Der Mann schaute überrascht und zögerte. Wohl eher Amerikaner, schloss sie daraus. Sie erinnerte sich, dass es in den Staaten nicht üblich war, sich zu jemanden an den Tisch zu setzen. 
»Oh, no problem«, sagte sie schnell in ihrem besten Oxford Englisch, das während ihrer Studienzeit bestimmt noch um einiges besser gewesen war, »wenn Sie alleine sein wollen, kann ich mich auch woanders hinsetzen.«
»And where?« Er schaute sich suchend um. »Come on, sit down please. Make yourself comfortable.« Mit seiner linken Hand deutete er auf den freien Stuhl an dem kleinen Tisch.
Die Stimme ließ sie einen Augenblick erstarren. Sie war sehr tief, sonor und klang ein bisschen rauchig … 
»Vielen Dank! Das ist sehr freundlich.« 
Sie setzte sich auf den Holz-Aluminium-Stuhl, der seinem gegenüber stand und verstaute erst einmal umständlich ihre Tüten unter dem Bistrotisch. 
»Darf ich Ihnen etwas bestellen?«, fragte der Fremde auf Englisch, als sie sich endlich zurücklehnte. Zu ihrer Überraschung sprach er langsam und deutlich. Sie hatte mit Amerikanern schon ganz andere Erfahrungen gemacht. Ein höflicher Bursche, dachte sie. Mit Manieren. Gibt es so etwas doch im Land der Cowboys? Sie grinste innerlich bei dem Gedanke und verfluchte gleichzeitig ihre Vorurteile. 
»Das wäre nett. Einen Cafe au lait … oder nein, warten Sie … einen Latte Macchiato, bitte.«
 »Gibt es da einen Unterschied? Ich dachte, das wäre dasselbe«, entgegnete er etwas irritiert.
Das hatte sie nun davon. Hätte sie sich nicht ein einziges Mal gleich für das Richtige entscheiden können? Wenn es um das Bestellen von Speisen oder Getränken ging, war sie oft recht unentschlossen. Entsprechend lange dauerte das Auswählen. Hatte sie einmal bestellt, war nicht garantiert, dass sie den Kellner nicht noch einmal herbei rief, um noch etwas zu ändern, ab- oder hinzu zu bestellen. Ihre Freunde lachten mittlerweile darüber. Sie kannten das Prozedere und verglichen sie mit Meg Ryan in dem Film Harry und Sally
Sie seufzte so leise wie möglich. Jetzt musste sie einem Amerikaner also den kleinen, aber feinen Unterschied zwischen einem Café au Lait und einem Latte Macchiato erklären – zudem auf Englisch. Eigentlich beherrschte sie die Sprache recht gut, zumindest schriftlich, denn an langen, einsamen Abenden war sie öfter in Internetforen und Chatrooms unterwegs, wo meist Englisch die gängige Sprache war. Außerdem hatte sie ein paar Semester Anglistik studiert. Das war allerdings schon eine halbe Ewigkeit her. Zum Sprechen hatte sie seitdem relativ selten Gelegenheit - und entsprechend groß waren die Hemmungen, wenn sie sich dann bot. 
»Also«, fing sie an und holte tief Luft, »ein Café au Lait ist hierzulande ein … äh … nicht so starker Espresso oder Kaffee mit genau so viel Milch und ein bisschen Milchschaum. In Frankreich allerdings ist es nur ein Kaffee mit viel Milch. Ein Latte Macchiato besteht aus viel Milchschaum, in den vorsichtig ein Espresso eingefüllt wird. Und dann bilden sich diese … diese …« Eigentlich suchte sie das englische Wort für Schichten, aber sie wusste nicht, ob sie es überhaupt schon einmal gehört hatte. Sie überlegte krampfhaft, wie sie das Kunstwerk umschreiben könnte.
»… also, diese verschiedenen Farben, die sie gleich bei meinem Latte Macchiato sehen können. Weil das so gut aussieht, wird er auch im Glas serviert.« 
Kurve gekriegt. Sie war überrascht und ein bisschen stolz, wie problemlos sie es geschafft hatte, ihm den feinen Unterschied darzulegen, fand dabei aber ihre Aussprache einfach fürchterlich. Ich muss unbedingt einen Konversationskurs machen, schoss es ihr durch den Kopf. 
»Danke für die Erläuterung. Jetzt bin ich ein bisschen schlauer als die meisten anderen Amerikaner. Und übrigens … sie haben einen wirklich netten Akzent«, sagte er mit einem Grinsen. 
Sie wusste nicht, ob sie sich geschmeichelt oder auf den Arm genommen fühlen sollte. Sie entschied sich für ersteres und grinste zurück. 
»Thanks.«
Während er den Kellner herbeirief und bestellte, ließ sie ihren Blick über den Marktplatz schweifen und registrierte die vielen Menschen, die umherhetzten, die schreienden Kinder, die Straßenmusiker. Fast kam es ihr vor, als hätte sie mit ihrem Platz inmitten des Straßencafes eine Insel der Ruhe gefunden. Sie liebte den Mainzer Marktplatz. Dienstags, freitags und samstags herrschte hier emsiges Treiben, wenn die Marktbeschicker ihr frisches Obst und Gemüse verkauften. Im Sommer fanden auf dem weiträumigen Platz, der für sie das Herz der Stadt war, manchmal Konzerte und Veranstaltungen statt. Dort, wo sie saß, hatte man einen beeindruckenden Blick auf den Mainzer Dom, der zwar mit dem Kölner nicht mithalten konnte, aber ohne den Mainz einfach undenkbar war. Sie war gerne in der Stadt, die so überschaubar war und so gemütlich. Ganz anders als das nur wenige Kilometer entfernte Wiesbaden.
Aus den Augenwinkeln musterte sie ihn. Ein Amerikaner wie aus dem Bilderbuch: Baseballkappe, dunkle Sonnenbrille, weißes Schlabber-T-Shirt, ausgewaschene Jeans, keine Socken, Sneakers. Sie wunderte sich, dass jemand sich genau so anzog, dass er hundertprozentig das Klischee erfüllte. Er war eher klein, sie schätzte ihn so auf 1,75 bis 1,80, aber dafür recht muskulös. Kein Brad Pitt mit Waschbrettbauch und knackigem Hintern, eher ein gut gebauter Russel Crowe, kräftig-muskulös, besonders am Oberkörper. Man sah, dass er trainierte, diese Oberarme können nicht auf natürlichem Wege entstanden sein, überlegte sie. Unter dem linken Ärmel des T-Shirts blitzte ein Tattoo hervor, eins von diesen neumodischen, das sich rund um den Arm schlang. Es erinnerte sie an einen Stacheldraht oder eine Kette. Auf so etwas stand sie eigentlich gar nicht. Es hatte irgendwie etwas Verruchtes an sich. In ihren Kreisen hatte niemand ein Tattoo. Jedenfalls keines, dass so offensichtlich war. Aber sie musste insgeheim zugeben, dass es auch etwas Aufreizendes hatte. 
»Interessiert?«, fragte sie der Fremde mit ironischem Unterton und erneutem Grinsen. 
Verdammt, das war wohl doch zu auffällig gewesen
»Nein, nein, es tut mir leid«, beeilte sie sich zu sagen und hätte sich ohrfeigen können. Zu allem Übel merkte sie, wie sie rot bis über beide Ohren wurde. Sie biss sich verlegen auf die Unterlippe.
»Es braucht Ihnen nicht leid zu tun. Männer schauen Frauen ständig an, warum soll es nicht auch umgekehrt so sein.« 
»Normalerweise tue ich so etwas nicht.« 
»Dann sollten Sie aber mal damit anfangen, sonst verpassen Sie noch etwas im Leben.«
Sie zog einen Mundwinkel und die Augenbrauen hoch. 
»Das glaube ich kaum«, antwortete sie schnippig. 
Sie hatte absolut keine Lust, mit diesem Fremden zu diskutieren, ob sie Männern hinterher schauen dürfe oder nicht. Natürlich schaute sie auch mal, wenn sie einen interessanten Mann sah. Ein wohlgeformter Hintern erregte ebenso ihr Augenmerk wie ein gut aussehendes Gesicht. War ja auch nicht verboten, oder? Sie war überzeugt, dass fast alle Frauen, ob verheiratet oder nicht, das taten. Aber sie ließ sich nicht gerne dabei erwischen. Schlimm genug, dass Männer das Hinterherschauen oft so offensichtlich betrieben, dass ihr offensichtliches Interesse am anderen Geschlecht niemand im Umkreis von 20 Metern entgehen konnte. 
Einige Minuten sagte keiner von beiden etwas. Der Kellner brachte die Getränke. Er hatte auch einen Latte Macchiato bestellt. Sie schmunzelte. Beide schauten zu, wie der Mann die Getränke von seinem Tablett auf den Tisch stellte und bedankten sich. 
Es war nicht ihre Art, mit einem Fremden, bei dem sie zufällig am Tisch saß, ein Gespräch anzufangen. Und er schien auch seine Ruhe haben zu wollen und rührte leicht abwesend ständig in seinem Latte Macchiato herum, sodass sich die Milch und der Espresso längst zu einer hellbraunen Flüssigkeit vermischt hatten. Aber irgendwie fand sie den Mann interessant. Sie konnte noch nicht einmal sagen, warum. Angestrengt überlegte sie, wie sie das Gespräch wieder in Gang bringen könnte. Leicht nervös und mit etwas kratziger Stimme sagte sie: »Sind sie schon lange in der Stadt?«
»Bin erst gestern angekommen«, antwortete er einsilbig.
»Und wie lange bleiben Sie?«
»Bin morgen schon wieder weg.«
»Hm, kurzer Besuch für einen solch weiten Weg. Sie kommen doch aus Amerika, oder?«
»Eigentlich aus Kanada. Aber ich lebe in den Staaten. Ich habe noch etwas Anderes hier in Deutschland zu erledigen.«
»Beruflich?«
»Mhmh«, brummte er zustimmend und ließ den Blick über den Platz schweifen. 
»Was ist ihr Beruf?« Sie überlegte gleichzeitig, was wohl zu ihm passen könnte. Ein Geschäftsmann war er bestimmt nicht, nach seinem Auftreten zu urteilen. 
Sie registrierte, wie er zögerte. 
»Ich bin Schauspieler.«
»Oh, Schauspieler!« Sie gab sich beeindruckt. »Sollte ich Sie kennen?«
»Kommt drauf an.«
»Worauf?«
»Ob sie mal einen Film oder etwas im Fernsehen mit mir gesehen haben.«
»Wie ist denn ihr Name?«
»Connor O’Bannion.«
Fast hätte sie sich an ihrem Latte Macchiato verschluckt, an dem sie gerade genippt hatte. 
»Connor O’Bannion? Sorry, dem sehen Sie aber gar nicht ähnlich. Ich habe kürzlich mal in die neue Serie reingeschaut, bei der er mitspielt.«
»Ich bin es aber.«
»Sicher, und Sie sitzen hier mit mir und trinken Kaffee,« lachte sie. »Guter Witz!«
»Wenn Sie meinen«, entgegnete er und zuckte mit den Schultern.
Sie schüttelte den Kopf. »Ach, kommen Sie. Was um Himmels Willen sollte Connor O’Bannion in dieser Stadt machen? In Berlin, Hamburg, München, ja – aber doch nicht in Mainz.« Sie schüttelte noch mal energisch den Kopf und lachte ein wenig unsicher. 
Zum ersten Mal wandte er sich ihr direkt zu und schaute sie durch seine dunkle Sonnenbrille an. 
»Warum denken die Leute bloß immer, Schauspieler hätten kein Privatleben? Könnte es denn nicht sein, dass Connor O’Bannion hier in Mainz einen Freund hat, einen Hubschrauber-Piloten, der drüben in Erbenheim auf der Airbase stationiert ist? Könnte es nicht sein, dass der Freund sich nach drei Jahren mal wieder mit ihm treffen und ihm bei der Gelegenheit die Stadt zeigen wollte, aber kurzfristig abkommandiert wurde? Ist das denn so unwahrscheinlich?«
»Ja … nein, natürlich nicht«, meinte sie schnell, obwohl sie doch recht skeptisch war. Bis jetzt hatte sie noch alles mehr oder weniger als einen Scherz aufgefasst, aber sein ernste Gesichtsausdruck brachte sie ins Wanken. Und die Tatsache, dass er den amerikanischen Flugplatz in Erbenheim kannte. Sie runzelte die Stirn. Konnte das sein? Nein, so etwas Absurdes passiert doch nur in kitschigen Filmen. Er wollte sie auf den Arm nehmen. Wo war die versteckte Kamera?
»Dann nehmen Sie doch einfach mal ihre Kappe und ihre Brille ab und zeigen Sie ihr Gesicht,« schlug sie siegesgewiss vor.
»Ich bin doch nicht verrückt, dann habe ich hier keine ruhige Minute mehr.«
Angeber!
 »Kommen Sie, nur ganz kurz. Sonst glaube ich Ihnen nicht, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen habe«, stichelte sie weiter. 
Provokant langsam – fast schon Blues-Brothers-like – setzte er die schwarze Sonnenbrille ab. Es war eine typische Sonnenbrille, wie sie der typische amerikanische Cop trägt, zumindest in den Filmen, die sie gesehen hat. Woher hatten die Amerikaner nur ihren Hang zu tropfenförmigen Brillengläsern? Irgendwie musste ihnen entgangen sein, dass sich auch die Sonnenbrillen-Mode in den vergangenen 20 Jahren weiterentwickelt hat. 
Sie schaute in zwei blaue Augen ... oder waren sie eher grün? Er nahm die Baseball-Kappe vom Kopf. Die blonden Haare waren ein bisschen platt gedrückt, aber vor ihr saß leibhaftig Connor O’Bannion. Er sah anders aus wie in der Serie, die sie kürzlich gesehen hatte, aber die Gesichtszüge waren unbestritten die Gleichen. Sie schluckte. Sie war sprachlos – und das passierte nur selten.
»Okay, Sie haben gewonnen«, sagte sie schließlich.
»Das war auch nicht schwierig«, grinste er.
»Ja, das stimmt. Freut mich, Sie kennenzulernen. Auch wenn ich Ihnen erst nicht geglaubt habe.«
Scheinbar war sie nicht die Einzige, deren Aufmerksamkeit geweckt war. Eine Frau vom Nachbartisch, die schon die ganze Zeit verstohlen herüber geschielt hatte, stand auf und ging zielstrebig auf das Objekt ihrer Begierde zu. 
Er setzte schnell wieder seine Tarnung auf und brummelte: »Sehen Sie, habe ich es nicht gesagt?«
»Entschuldigen Sie die Störung. Sind sie nicht Connor O’Bannion?«
Er schaute zu ihr auf, zögerte einen Moment und sagte dann leise: »Ja, der bin ich.« 
»Oh mein Gott«, sagte die Mitvierzigerin verzückt. Sie drehte sich zu ihren Freundinnen um und rief: »Er ist es.«
»Pscht!« machten Connor und sie fast gleichzeitig. 
»Ach ja, sie wollen ja sicher nicht erkannt werden. Meine Güte, habe ich ein Glück. Würden Sie mir ein Autogramm schreiben?«
Sie setzte sich ohne zu fragen auf den freien Stuhl und schaute ihn erwartungsvoll an. Ihre mascara-schweren Wimpern klapperten aufgeregt. 
Flirtet die Frau etwa mit ihm? 
Connor lächelte die Frau an und zeigte ihr seine perfekten weißen Zähne. Sie schlürfte an ihrem Latte Macchiato und beobachtete die Szene. Wirklich filmreif. Aber irgendwie kam ihr sein Lächeln falsch vor, gespielt.
»Aber natürlich. Wie heißen Sie?«, fragte Connor.
»Sabine«, sagte sie und hielt ihm einen Kuli hin. »Bitte unterschreiben Sie auf der Speisekarte, ich habe leider keinen Zettel.«
Connor nahm die Speisekarte und schrieb auf die Rückseite: For Sabine with Love. Connor O’Bannion.
Die Fremde nahm sie mit einer gewissen Ehrfurcht, so schien es, entgegen und presste sie an die Brust. Sie blieb noch ein paar Sekunden erwartungsvoll sitzen, wusste aber scheinbar nicht, was sie sagen sollte. 
Connor sagte schließlich: »War schön, Sie kennengelernt zu haben, Sabine.« 
Sie verstand den Wink, stand auf, hauchte ein «Good bye, Connor!« und ging zurück zu ihren drei Freundin, die allesamt aussahen, als wären sie frisch vom Friseur gekommen, und die dem Ganzen neugierig zugeschaut hatten. Hier fand die Frau ihre Worte wieder. Gestenreich erzählte sie von ihrem nicht alltäglichen Erlebnis. 
»Das war aber ein großer Fan von Ihnen. Sie war ja wie in Trance«, staunte sie, weil sie die Erregung der Frau nicht so ganz nachvollziehen konnte. 
»Ein zu großer Fan. Lassen Sie uns verschwinden, bevor noch mehr kommen.«
Er hatte es plötzlich ziemlich eilig. Warf zehn Euro auf den Tisch, sprang auf und schnappte sich einen Teil ihrer Einkaufstüten. 
»Hey, ich habe noch nicht ausgetrunken.«
»Das ist egal.« Er war schon auf dem Weg zum Marktplatz. Sie nahm den Rest der Tüten und zwängte sich durch die engen Reihen, murmelte hier und da eine Entschuldigung und holte ihn erst wieder am nächsten Brezelstand ein. 
»Hey, was ist denn los?« 
»Entschuldigung! Ist schon okay. Ich dachte nur, dass die anderen drei jetzt auch gleich noch um den Tisch herum stehen. Das kann eine Kettenreaktion auslösen – und darauf habe ich keine Lust.«
»Das kann ich gut verstehen. Und was jetzt?« 
Sie dachte keine Sekunde über diese merkwürdige Situation nach, in der sie einem Unbekannten hinterher rannte, weil der sich gerade mit ihren Einkäufen auf und davon gemacht hatte. Erst viel später wunderte sie sich, dass er nicht auch vor ihr, sondern mit ihr davon gelaufen war. Als sie ihn irgendwann mal nach der Situation fragte, lachte er und meinte, er hätte nicht unhöflich sein und einfach davon rennen wollen. Außerdem sei er froh gewesen, jemand zum Unterhalten gefunden zu haben, denn alleine zu sein war ihm eigentlich zuwider. Zudem machte sie auf ihn nicht den Eindruck, dass sie sonderlich beeindruckt von der Tatsache war, einem leibhaftigen Star gegenüber zu sitzen. »Das war dein Glück«, hatte er seine Begründung geendet. 
»Haben Sie heute noch etwas vor?« fragte er und blickte sich suchend um. 
Sie überlegte einen kurzen Augenblick. Tom schlief bei seiner Oma und sie hatte sie mit einem Gläschen Rotwein auf der Couch einkuscheln wollen. Im Fernsehen lief Vier Hochzeiten und ein Todesfall, für sie der Kultfilm schlechthin. Sie hatte ihn mindestens schon sechs, sieben Mal gesehen. Aber er lief ihr nicht weg. Die nächste Wiederholung kam bestimmt. 
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. 
»Haben Sie Lust, mir die Stadt ein bisschen zu zeigen? Schließlich komme ich ja jetzt um eine Führung, weil mein Freund nicht da ist. Und anschließend könnten wir etwas essen gehen. Gibt es hier einen guten Italiener?«
»Gibt es, hinten in der Altstadt. Wir sollten aber einen Tisch reservieren. Was würden Sie sich gerne anschauen? Den Dom, die Römerschiffe, die Chagall-Fenster? Und … übrigens ... mein Name ist Christin.« Sie streckte ihm ihre Hand hin. 
»Freut mich, Christin. Wie ich heiße, wissen Sie ja schon.« Er nahm ihre Hand und lächelte. 
Riesige Vögel kündigen die Nähe des Frankfurter Flughafens an. Im Zwei-Minuten-Takt steuern sie die Landebahn an und schweben sanft über die Autobahn. Christin ist schon immer fasziniert gewesen vom Anblick der weißen Riesen mit der immensen Spannweite. Sie schaut aus dem Fenster und beobachtet, wie ein Jumbo elegant zur Landung ansetzt. Nicht mehr lange, dann wird sie selbst in so einem Vogel aus Stahl sitzen. Wie immer, kurz bevor sie in ein Flugzeug steigt, ist ihr etwas mulmig zu Mute. Ihr Bauch krampft sich in schöner Regelmäßigkeit zusammen. Ihr Verstand sagt ihr zwar, dass sie nicht mehr besorgt sein muss als bei einer Fahrt mit dem Auto, aber dieses Gefühl der Ohnmacht gewinnt immer wieder die Oberhand. In einem Auto hätte sie im Falle eines Falles vielleicht noch die Möglichkeit, mit ihrer Reaktion das Schlimmste abzuwenden. Zumindest ist das ihr Argument. Im Flugzeug kann sie aber rein gar nichts tun. Sie muss sich völlig auf diese Leute im Cockpit verlassen – etwas, dass ihr sehr schwer fällt.
Am Flughafen lässt der Fahrer sie aussteigen, kassiert und holt noch ihr Gepäck aus dem Kofferraum. Er rauscht ohne ein weiteres Wort davon. Für ihn war es nur eine von zahlreichen Fahrten, die er täglich macht. Christin steht immer noch da, wo er sie abgesetzt hat und sieht ihm nach. 
Im Terminal muss sie sich erst einmal orientieren. Sie läuft einige hundert Meter in dem riesigen Gebäude aus Stahl und Glas, bis sie den richtigen Schalter findet. Eine unendlich scheinende Schlange von Menschen steht davor und wartet darauf, endlich das Gepäck loszuwerden. 
Sie stöhnt. Das sieht nach mindestens einer Stunde warten aus. Sie setzt sich auf ihren Koffer und lässt ihren Gedanken wieder freien Lauf. 
Sie liefen nebeneinander durch die Mainzer Altstadt. Zum ersten Mal seit langem fiel ihr auf, wie malerisch die engen Gässchen, kleinen Plätze, Brunnen und Fachwerkhäuser waren. Sie kamen an kleinen Geschäften vorbei, die viele unnötige Dinge verkauften, die aber dafür um so schöner waren. In den Schaufenstern stapelten sich kitschige Dekorationsgegenstände neben teueren Bilderalben, edlen Küchenutensilien, allen Zutaten für ein perfekt toskanisches Ambienten und mattem Silberschmuck. 
Sie legten einen kurzen Stop beim Parkhaus ein, um ihre Tüten im Auto zu verstauen. Anschließend machten sie einen Abstecher zum Al Cortile, einem recht noblen Italiener in einer kleinen Seitenstraße der Augustinerstraße. Connor schaute sich im Restaurant um, deutete auf einen Tisch in einer Nische und bat den Kellner, genau diesen zu reservieren. 

Die Römerschiffe, die vor einigen Jahren beim Bau des Hiltons ausgegraben wurden, schienen ihn zu beeindrucken. Na ja, dachte Christin, in Amerika kriegt man ja so etwas auch nicht zu sehen. Er betrachtete sich die Überreste aus uralten, dunklen Holzplanken und die dazugehörigen großen nagelneuen Schiffe, die kundige Archäologen aus diesen wenigen Überbleibsel und vielen Abbildungen aus der Römerzeit rekonstruiert hatten, von allen Seiten. Christin, die schon zweimal in dem Museum gewesen war, lief leicht gelangweilt neben ihm her durch den großen Saal. Sie waren fast die einzigen Besucher in dem eigens für die Fundstücke umgebauten Museum, das früher eine Markthalle gewesen war. Nur noch ein älteres Paar, beide schon ergraut und offensichtlich im Rentenalter, schauten sich die Überreste aus einer vergangenen Zeit an. Mainz war geprägt von dieser Epoche. Wo man hinschaute Relikte der einstigen Besatzer. Man stolperte fast darüber, wenn man durch die Stadt lief. Kaum eine Baugrube konnte ausgehoben werden, ohne dass man römische Dinge des täglichen Gebrauchs, Grabbeigaben oder manchmal auch Grundmauern von Gebäuden fand, die vor etlichen Jahrhunderten gebaut worden waren. 
Während Connor sich einige ausgestellte Grabsteine betrachtete, ging Christin in eine Ecke des Saals und gab vor, eine plastische Abbildung der Trajanssäule in Rom zu inspizieren. Tatsächlich beobachtete sie jedoch Connor aus den Augenwinkeln. Selbstsicher, die Hände in den Hosentaschen, lief er sich zwischen den archäologischen Exponaten herum. Wenn sie nicht gewusst hätte, dass es sich bei dem Mann um einen prominenten Schauspieler handelte – sie hätte ihn niemals im Leben erkannt. Er sah so etwas von normal aus, dass er auch der Klempner hätte sein können, der ihr ein verstopftes Rohr wieder frei machte. Connor drehte sich zu ihr um. Schnell wand Christin den Kopf ab und richtete ihr Augenmerk wieder auf die Säule. 
Weil sie noch genügend Zeit hatte, liefen Sie über das Kopfsteinpflaster der Altstadt zurück zum Dom. Christin sah etwas verwundert, wie Connor beim Betreten des romanisch-gotischen Bauwerks seine Finger in Weihwasser tauchte und sich bekreuzigte. Er nahm sogar seine Baseball-Kappe ab, ließ aber die Sonnenbrille auf. Sie hätte ihn nicht für gläubig gehalten. Sie selbst hatte mit dem Thema Kirche abgeschlossen und rührte keinen Finger. Ehrfurcht hatte sie eigentlich schon immer vor der Arbeit der Erbauer von solch mächtigen Kathedralen gehabt. Sie bewunderte deren Können und liebte es, die Bauwerke zu besichtigen, aber der christliche Aspekt war ihr völlig egal. Connor schaute sich alles sehr genau an, blieb vor jeder Statue, jedem Altar oder Grab stehen. Christin setzte sich in der Zwischenzeit auf eine der Kirchenbänke und wartete auf ihn. 
Nach einiger Zeit wurde sie ungeduldig. Es war auch höchste Zeit zu gehen. Nicht nur, dass ihr Magen das signalisierte. Der Tisch im Restaurant wartete nicht. Das Al Cortile war sehr gut besucht, und es war ratsam, pünktlich zu erscheinen. Sie suchte Connor in dem riesigen Gebäude. Schließlich fand sie ihn in einer Nische vor einer Madonna. Er wandte ihr den Rücken zu, also berührte sie ihn leicht am Arm, als sie ihn ansprach. 
»Connor, es wird Zeit zu gehen.«
Er drehte sich zu ihr um und schaute sie an, als wüsste er im Moment nicht, wer sie war und dass er sich in ihrer Begleitung befand. Er fuhr sich durch die Haare und nickte. »Okay, ich komme.«
Als sie aus dem Dom traten, war die Sonne schon hinter den Dächern am Verschwinden. Es war plötzlich scheinbar zehn Grad kälter als noch eine Stunde zuvor. 
»Ist Ihnen nicht kühl?«, fragte sie mit Blick auf sein T-Shirt.
Er rieb sich die Arme. »Ist schon okay. Ich dachte, ich esse heute Abend im Hotel, deswegen habe ich keine Jacke mit. Machen wir, dass wir zum Restaurant kommen.«
Im Al Cortile herrschte eine angenehme Dunkelheit. Kerzen und schwache Lampen erhellten den Raum gerade so viel wie nötig. Sie wurden zu ihrem bestellten Tisch in der Nische geführt. Er setzte sich mit dem Rücken zum Raum und nahm erst jetzt seine Sonnenbrille und die Kappe ab. 
Was für ein Leben, dachte sie. Das kann doch keinen Spaß machen, wenn man dauernd befürchten muss, dass man von anderen erkannt und belästigt wird. Viele Menschen träumten ja davon, berühmt zu sein, aber sie hatten sicherlich keine Ahnung davon, welche Einschränkungen man dafür hinnehmen musste. 
Er nahm die weiße Stoffservierte vom Teller und legte sie sich gleich auf den Schoß. Dann blickte er blickte auf und sah sie mit seinen blau-grünen Augen an. 
»Ich möchte Ihnen für den netten Nachmittag danken«, sagte er und wie schon einige Male in den vergangenen Stunden bekam sie eine Gänsehaut, als sie die tiefe Stimme hörte. 
»Es war mir eine Freude«, entgegnete sie und merkte erstaunt, dass es nicht nur so daher gesagt war, wie man es oft bei solchen Floskeln tut, sondern dass sie es genau so meinte. Lag das jetzt daran, dass er ein bekannter Schauspieler war oder ein so netter Kerl? Hätte sie ihm auch die Stadt gezeigt, wenn er einfach irgend jemand gewesen wäre, den sie zufällig kennengelernt hätte? Wohl eher nicht. Sie würde sich normalerweise auch nie von einem Wildfremden zum Essen einladen lassen. War also tatsächlich sein Status ausschlaggebend gewesen? 
Der Kellner brachte die Speisekarte.
»Hätten Sie vielleicht noch eine auf englisch?«, fragte Christin ihn.
Glücklicherweise hatte er eine englische Speisekarte, sonst wäre sie in die Verlegenheit gekommen, Connor alles übersetzen zu müssen, und Nahrungsmittel-Vokabeln waren nicht gerade ihre Stärke. 
Wie üblich starrte sie minutenlang in die Karte. Doch diesmal war nicht nur die mangelnde Entscheidungsfreudigkeit das Problem. Sie überlegte auch, worüber sie beide sich unterhalten könnten. Ein Gesprächsthema musste her. Sein Vater Aaron O’Bannion, das wusste Christin, war ebenfalls ein bekannter Schauspieler. In seiner Glanzzeit hatte er in vielen Western gespielt. Mehr wusste sie allerdings nicht über ihn, da sie sich grundsätzlich solche alten Schinken nicht anschaute. Sie hatte keine Ahnung, ob er heutzutage noch im Geschäft war. 
Sie schwankte zwischen Nudeln mit Tomaten-Sahne-Soße, frischen Champignons und Schinken oder einer leckeren Pizza mit Schinken und Peperoniwurst. Sie entschied sich für die Nudeln und ein Glas Rotwein. Er bestellte eine Pizza und ein Bier. 
»Wie ist es eigentlich, Sohn eines berühmten Schauspielers zu sein?« fragte sie ihn, als sie wieder alleine waren.
»Ich weiß es nicht«, sagte er und zuckte mit den Schultern. 
»Wie meinen Sie das?«
»Nun, ich bin mit meinem Bruder bei meiner Mutter in Kanada aufgewachsen. Mein Vater hatte eigentlich nie Zeit für mich. Natürlich haben wir uns ab und zu gesehen, aber er war immer nur ein Besucher. Besser kennengelernt habe ich ihn erst, als ich 16 war. Da habe ich es zu Hause nicht mehr ausgehalten und bin nach Amerika abgehauen. Er hat mir ein paar Mal unter die Arme gegriffen und mir Jobs bei den Filmunternehmen besorgt. Ich war dort Mädchen für alles. Er hätte mich ohne Probleme ins Filmgeschäft bringen können, aber ich wollte es alleine schaffen.«
»Und, haben Sie es alleine geschafft?«
»Sicher nicht.« Er schüttelte den Kopf und kniff die Augen zusammen. »Mein Vater hat seine Hände im Spiel gehabt, auch wenn er es nicht zugeben will, und mein Name ist sicherlich auch mit ausschlaggebend, dass man mir überhaupt mal eine Chance gegeben hat.«
»Woher stammt ihr Name überhaupt? Connor hört man nicht so oft, und O’Bannion klingt irgendwie irisch.«
»Richtig geraten. Mein Großvater stammte aus Irland. Connor ist auch ein irischer Name, er geht auf die Kelten zurück, und bedeutet Starker Wille.« Er lächelte und zum ersten Mal fielen ihr die kleinen Lachfältchen auf, die er in den Augenwinkeln hatte.
»Und, haben Sie den, einen starken Willen?« 
»Ich glaube schon, ich kann ganz schön dickköpfig sein.«
»Das kann ich auch.« 
Sie nahm ihr Glas Rotwein, das der Kellner inzwischen gebracht hatte, und prostete ihm zu. Sie nippte an dem dunkelroten, herben Wein und schaute ihn über den Gläserrand an. 
Christin schätzte, dass er ein bisschen älter als sie selbst war, so knapp über 40. Bei genauerem Hinsehen konnte man zwar schon hier und da ein paar Fältchen auf der sonnengebräunten Haut entdecken, aber das machte ihn gerade interessant.
Das Essen war wie immer vorzüglich. Sie bereute es nicht, sich für die Nudeln entschieden zu haben. Allerdings überlegte sie eine Sekunde, ob sie ihn um ein Stück Pizza bitten könnte, die ebenfalls sehr appetitlich aussah. Sie entschied sich aber, es sein zu lassen, schließlich kannten sie sich so gut wie gar nicht. Connor genoss seine Pizza offensichtlich. »Viel besser als die amerikanischen Pizzas«, meinte er begeistert. 
Als der Kellner die Teller abräumte, verlangte Connor nach der Rechnung. 
»Connor, sind Sie in Eile? Ich wollte eigentlich noch einen Espresso trinken«, sagte sie ein klein wenig verärgert. Er hatte sie noch nicht einmal gefragt, ob sie gehen wollte. 
»Ich dachte, wir müssen den Tisch frei machen?«
»Nein, der ist für uns den ganzen Abend reserviert. Das ist hier nicht wie in Amerika.«
»Ach ja, stimmt. Entschuldigung, das war reine Gewohnheit. Gut, dann bleiben wir noch sitzen. Ich wollte eigentlich mit Ihnen an der Hotelbar noch etwas trinken, aber hier ist es sehr gemütlich. Was möchten Sie noch trinken?« 
»Ich nehme noch einen Espresso und einen Rotwein.«
Sie erklärte dem Kellner, dass sie es sich anders überlegt hätten. Er war etwas ungehalten, weil er den Tisch offenbar schon an ein wartendes Paar vergeben hatte, nahm aber dann die Bestellung auf. Connor orderte einen Whiskey auf Eis.
Die Unterhaltung verlief lockerer und entspannter, als sie gedacht hätte. Connor hatte viel aus der Filmbranche zu erzählen, und Christin konnte nicht genug von den Anekdoten bekommen. Er war ein guter Unterhalter, der wusste, wie man eine Story rüberbringt und seinen Zuhörer in Bann schlug. Einige Male lachte sie laut auf. Etwa, als er von seiner berühmten Kollegin erzählte, die beim Dreh einer Abschiedsszene im Hafen einen unbedachten Schritt machte und rückwärts ins Hafenbecken fiel. 
»Ich musste so lachen, dass ich nicht daran dachte, ihr hinterher zu springen. Glücklicherweise waren aber genug Männer am Set, die dies bereitwillig taten«, grinste Connor, und seine Augen blitzen vor Schadenfreude. Die eingeschnappte Kollegin hatte daraufhin drei Wochen nicht mehr mit ihm geredet. Christin meinte, vor Jahren in einer Illustrierten etwas über eine angebliche Beziehung zwischen den beiden gelesen zu haben. Aber sie traute sich nicht, ihn direkt danach zu fragen. Deshalb sagte sie: »Joanna Henderson macht aber einen netten Eindruck. Wie ist sie denn so privat?«
»Hm ... sie ist der Traum vieler Männer und weiß das auch. Sie kokettiert mit ihnen. Alles ist ein Spiel. Ein Spiel mit dem Feuer. Man verbrennt sich, wenn man ihr zu nahe kommt.«
»Haben Sie sich auch mal die Finger verbrannt?«, fragte sie mit einem Grinsen, innerlich ein bisschen erschrocken über ihre dreiste Frage.
»Sie sind aber gar nicht neugierig, oder? Na, jedenfalls scheinen Sie die Klatschpresse nicht zu lesen.« Er schaute sie direkt an, trank dabei an seinem Whiskey, behielt ihn eine Weile im Mund, schluckte dann und schloss für einen Moment die Augen. 
Leicht irritiert stammelte Christin: »Entschuldigung, das ist wirklich nicht meine Angelegenheit ...«
»Ja, ich habe mir die Finger verbrannt«, unterbrach sie Connor schnell. »Die Fingerspitzen zumindest. Aber ich habe meine Hand schnell genug weggezogen.«
»Verstehe. Und nein, ich lese die Klatschpresse normalerweise wirklich nicht. Deswegen weiß ich auch nicht, ob sie verheiratet sind oder ...« Sie stockte.
Er presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf.
»Nicht mehr. Ich war zweimal verheiratet, aber es hat nicht funktioniert. Ich glaube, ich bin kein Typ, der es lange mit dem ein und selben Menschen aushält ... oder der Mensch mit mir. Und Sie?«
»Ich bin verheiratet.« Sie flüsterte die Worte fast.
Er hob die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts.
»Mein Mann und ich haben uns getrennt, aber wir leben noch zusammen in unserem Haus und tun so, als ob alles okay wäre.«
»Warum ziehen Sie nicht aus?«
»Wir haben einen Sohn. Er soll nicht merken, dass etwas nicht stimmt. Auch unsere Familie ahnt nichts.«
»Aber das muss doch unerträglich für Sie sein?«
»Nein, wir verstehen uns eigentlich ganz gut, aber wir lieben uns nicht mehr.« Sie zuckte mit den Schultern und schaute auf ihr Glas. 
Er hatte Recht, manchmal war es wirklich unerträglich, zusammen zu leben, aber sich eigentlich nichts zu sagen zu haben. Felix schlief seit einem halben Jahr im Souterrain ihres Hauses. Tom hatten sie als Begründung erzählt, dass Papa zu laut schnarche. Er hatte es mit einem Lachen hingenommen. Im Moment ahnte er noch nichts, aber er wurde älter und würde sicherlich irgendwann spüren, dass gar nichts so war, wie es sein sollte. 
Sex hatten Christin und Felix schon Monate vor der Trennung nicht mehr gehabt. Christin hatte dann eines Tages in seinem Jackett, das sie in die Reinigung geben wollte, das Flugtickets ihres Mannes und seiner Sekretärin gefunden. Da er ihr gesagt hatte, dass er alleine nach London fliegen würde, war sonnenklar, dass etwas an der Sache nicht stimmte. Er versuchte sich zwar herauszuwinden, als sie ihn zur Rede stellte, aber er hatte keine Chance. 
Für Christin brach keine Welt zusammen. Im Grunde genommen war es ihr egal. Da erst wurde ihr bewusst, dass ihr gar nichts mehr an ihm lag. Sie beschlossen, sich inoffiziell zu trennen. Aber keiner von beiden wusste, wie es weiter gehen sollte. 
Christin erzählte Connor minutenlang davon ohne ihn einmal anzusehen. Es tat gut, einem Fremden, jemanden, der nicht zur Familie oder zum Bekanntenkreis gehörte, die Sachlage zu schildern. Mit jedem Wort realisierte Christin mehr, wie furchtbar sie sich eigentlich fühlte und wie sehr sie sich wünschte, die Situation ändern zu können. Connor hörte sich die Geschichte wortlos an und unterbrach sie auch nicht, wenn sie beim Erzählen ins Stocken kam und nach den richtigen Vokabeln suchte. Dann fragte er leise:
»Wie alt ist ihr Sohn?«
»Tom ist 11.«
»Ich habe eine Tochter. Sie ist schon 22.«
»Wow, da sind Sie aber früh Vater geworden«, staunte Christin.
»Ja, ich war 20 und eigentlich viel zu jung. Ihre Mutter und ich haben geheiratet, als wir wussten, dass sie schwanger war, aber es ging schief. Ciara ist bei ihrer Mutter aufgewachsen. Ich habe den gleichen Fehler gemacht wie mein Vater. Ich war immer nur der Besucher. Aber ich liebe sie.«
»Und heute ... wie ist Ihr Verhältnis?«
»Wir sind mehr Freunde als Vater und Tochter. Aber wir sehen uns nicht sehr häufig. Ich bin meistens im Stress und sie am Feiern. Ich wünschte, ich hätte noch mal ein Kind und könnte alles besser machen.«
»Das würde Ciara aber auch nicht helfen.«
Er nickte und schaute auf seine Hände. Offenbar machte ihm das Ganze zu schaffen. 
Christin wurde das Gespräch zu ernst und zu persönlich. Sie wollte es wieder in eine andere Bahn lenken. 
»Und was machen Sie sonst noch so außer schauspielern?«
»Ach, ich mache jede Menge: ein bisschen Gitarre spielen, Stampede …«
»Stampede? Sie meinen, Rodeo?« unterbrach sie ihn. 
»Calf roping im Speziellen. Kälber mit dem Lasso fangen.«
»Wollen Sie mich veräppeln?«, lachte sie. Sie wusste einfach nicht, woran sie bei ihm war. 
»Nein, ich bin völlig ernst. Ich habe mit 19 einen Film gedreht, bei dem ich acht Stunden am Tag im Sattel sitzen musste. Nach Drehende habe ich das Pferd gekauft. So fing alles an. Als ich vor ein paar Jahren die Nase vom Filmen erst einmal voll hatte, bin ich zum Rodeo gekommen. Sie können sich nicht vorstellen, was für einen Spaß das macht.«
»Nein, kann ich wirklich nicht. Ich bin zwar früher auch geritten, aber auf einem Rodeo war ich noch nie. Ich glaube auch nicht, dass mir das gefallen würde.«
»Doch, ganz bestimmt. Schon das Zuschauen ist spannend. Es selbst zu versuchen, würde ich Ihnen allerdings nicht raten. Es ist kein Sport für Frauen. Ich habe mir auch schon alle möglichen Knochen gebrochen.«
»Kein Sport für Frauen? Das hätten Sie nicht sagen sollen. Ich werde es bestimmt bei der nächsten Gelegenheit ausprobieren«, lachte sie. Sie hatte sie keine Hemmungen, eine Bohrmaschine, eine Elektrosäge oder andere Werkzeuge zu benutzen und sonstige Männerarbeit zu erledigen. Also warum sollte sie nicht so ein kleines Kalb mit einem Lasso fangen können? Alles eine Frage der Übung. Sie bezweifelte aber, dass sie je die Gelegenheit bekommen würde, es zu testen.
»Lassen Sie lieber die Finger davon«, meinte er noch einmal und schaute auf seine Uhr. »Schon zehn Uhr, wir sollten zahlen. Ich muss morgen früh raus, weil ich schon um sieben Uhr am Flughafen sein muss.« 
»Wo geht’s hin?«
»Berlin. Zur Deutschlandpremiere meines neuen Films.«
»Sie haben einen neuen Film gemacht? Wusste ich gar nicht.«
»Ja, er heißt Bodycheck. Es geht um einen Eishockeyspieler. Eishockey spiele ich nämlich auch noch ein bisschen, und da hatte ich natürlich große Lust, einen Film darüber zu machen.«
»Ach, Eishockey spielen sie auch.« Sie schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf. 
»Ja … ich stecke voller Überraschungen«, lachte er. 
Er rief den Kellner und bezahlte. Als sie durch das Lokal gingen, drehten einige Leute den Kopf nach ihnen um, manche tuschelten, aber keiner sprach sie an. 
»Ist das normal, dass man Sie ständig anstarrt?«, fragte Christin ihn vor dem Lokal.
»Absolut normal. Man gewöhnt sich dran.«
Sie liefen eine Weile schweigend nebeneinander zu seinem Hotel. Sie kannte die Schleichwege durch die Altstadt und so kam er in Winkel, die er sonst wohl nie gesehen hätte. 
Sie hatte an diesem Abend so viel über das Filmbusiness erfahren, aber eine Sache wollte sie gerne noch wissen, bevor sie sich verabschieden mussten. Schließlich bekam man nicht jeden Tag die Gelegenheit, sich mit einem Schauspieler zu unterhalten. Sie nahm all ihren Mut zusammen. 
»Connor?«
»Ja?«
»Entschuldigen Sie, dass ich so neugierig bin, aber ... wie ist das eigentlich, vor der Kamera Liebesszenen zu spielen? Kann man da immer seine Gefühle beherrschen? «
Sie vermied es, ihn anzuschauen, denn irgendwie war sie ein wenig aufgeregt angesichts der offenen Frage. 
Pause. Überlegte er? Oder war er verärgert?
»Nun ... nein, kann man nicht. Manchmal ist man schon erregt, vor allem, wenn man eine Filmpartnerin hat, die man attraktiv findet.«
»Und dann?«
»Hofft man, dass es niemand mitbekommt. Es vor der Filmpartnerin zu verbergen, ist manchmal etwas schwierig, aber die meisten sind diskret. Manche Schauspieler masturbieren auch einfach vor einer Liebesszene. Und manch eine Schauspielerin genehmigt sich vorher einen Drink.«
»Kann ich gut verstehen.«
»Normalerweise werden diese Drehs ans Ende der Dreharbeiten verlegt, damit sich die Schauspieler schon ein bisschen kennenlernen konnten. Es wird auch mit kleiner Crew gedreht, also nur den Leuten, die wirklich da sein müssen. Aber Sie glauben nicht, wer auf einmal alles einen Scheinwerfer ins rechte Licht rücken muss.« Sie lachten beide. 
»Und ... fühlen Sie sich unwohl, wenn sie sich vor der Kamera ausziehen müssen?«, fragte Christin.
»Das eigentlich nicht. Nackt zu sein ist etwas Natürliches. Es gibt ja auch Hilfsmittel, hautfarbene Strings für die Frauen und kleine fleischfarbene Beutelchen, wo die Männer alles drin verstauen können.« Er musste grinsen. »Aber ich fühle mich unwohl, wenn ich so tun muss, als ob ich mit einer Frau schlafe. Wenn ich sie leidenschaftlich küssen und berühren muss. Wenn kein Gefühl vorhanden ist oder einem die Kollegin sogar unsympathisch ist, ist es schwierig, weil man die Leidenschaft spielen muss. Und falls Gefühle da sind, ist es schwierig, weil man echte Leidenschaft unterdrücken muss und sich immer unter Kontrolle haben muss, damit es nicht zu weit geht. Ich fühle mich besonders unwohl, wenn ich gerade eine Freundin habe, weil ich irgendwie immer ein schlechtes Gewissen bekomme, wenn ich in dem Moment etwas empfinde, das ich nicht empfinden sollte. Aber es lässt sich manchmal einfach nicht verhindern. Mein Agent versucht deshalb normalerweise, in den Verträgen zu freizügige Szenen zu blockieren. Aber manchmal bekommt man eine Rolle nur, wenn man dazu bereit ist. Und dann muss man überlegen, was einem wichtiger ist. Erotik im Film ist insbesondere bei den DVDs ein Verkaufsargument. Im Kino wird ja meistens weniger gezeigt, weil der Film sonst eine Altersbeschränkung ab 18 Jahren bekommt, was man auf jeden Fall verhindern will.«
»Ich habe mich immer über Michael Douglas und Glen Glose in Eine verhängnisvolle Affäre gewundert. Ich könnte niemals eine solche Sexszene spielen.« Ihr fiel der englische Titel des Films nicht ein, aber er wusste gleich, was sie meinte. 
»Fatal Attraction. Ja, das war eine Riesenleistung«, nickte er. »Übrigens stimmen die Gerüchte, dass Schauspieler vor laufender Kamera miteinander geschlafen hätten, eigentlich nie. Diese Gerüchte kommen immer nur bei Filmen auf, die Publicity dringend nötig haben.« 
»Wissen Sie was? Mich wundert es, dass Sie so offen darüber reden.«
»Eigentlich habe ich noch nie richtig mit jemand darüber geredet. Ich meine ... klar, man macht seine Witzchen mit Kollegen oder streitet sich mit seiner Freundin wegen einer allzu intimen Liebesszene, aber jeder Schauspieler versucht, das Thema möglichst unter den Tisch zu kehren.«
Sie waren am Hyatt Hotel angekommen und blieben vor dem Eingang stehen. Er rieb seine Arme, denn mittlerweile war es empfindlich kalt geworden. 
»Christin, ich wollte Sie noch etwas fragen.« Er schaute auf den Boden. 
»Ja?«
»Könnten Sie sich vorstellen, übernächstes Wochenende mit mir nach Berlin zu kommen? Ich bekomme einen Preis verliehen, anschließend ist noch eine große VIP-Party, aber ich habe keine Lust, alleine hinzugehen.«
»Aber ...« Sie schüttelte leicht den Kopf. »Aber ich kann doch nicht mit Ihnen nach Berlin fahren. Wie stellen Sie sich das denn vor? Ich kenne Sie doch gar nicht. Mit Ihnen essen zu gehen, ist eine Sache, aber das ist etwas ganz anderes.« 
»Sie haben wahrscheinlich Recht«, sagte er leise und seine Stimme klang noch tiefer als zuvor. Er blickte auf.
 »Mein Manager hat mir ein deutsches Handy besorgt, ich gebe Ihnen mal die Nummer, falls Sie es sich anders überlegen. Das Angebot steht. Haben Sie etwas zu schreiben?«
Das Kramen in ihrer Tasche gab ihr einen kurzen Moment Zeit nachzudenken. Sie konnte doch nicht einen Wildfremden nach Berlin begleiten. Ausgeschlossen. Obwohl es sie schon gereizt hätte. Man bekam nicht jeden Tag das Angebot, auf eine VIP-Party zu gehen. 
Sie reichte ihm einen kleinen Block und einen Stift. Er notierte die Zahlen. Sie sah, dass er Linkshänder war. Als sie den Block in der Tasche verstaut hatte, nahm er ihre rechte Hand mit seiner Linken, beugte sich zu ihr hinüber und küsste sie auf die Wange. 
»Ich muss gehen. Passen Sie auf sich auf.«
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte und nickte nur. Er drehte sich um und ging zum Eingang des Hotels. Sie sah ihn in der Glasdrehtür verschwinden, die ihn zu verschlucken schien. Drinnen drehte er sich noch einmal kurz um, hob die Hand und ging zum Aufzug. Christin stand da wie betäubt. Sie schüttelte den Kopf, um wach zu werden. Aber es war kein Traum gewesen. 

Samstag, 29. Oktober 2011

Wieder online!

Liebe Leserinnen und Leser,
nachdem ich meine Webseite wegen eines Anbieterwechsels vom Netz genommen hatte, war ich eigentlich soweit, es dabei zu belassen. Ich dachte, das Interesse an 'Dreimal Hollywood und zurück' sei erschöpft - aber ich hatte mich getäuscht. Es erreichten mich einige E-Mails von Lesern, die mich baten, die Geschichte weiterhin kostenlos im Internet anzubieten. Nach einigem Überlegen habe ich mich dazu entschlossen, die Webseite in einem anderen Format, nämlich als Blog, wieder aufleben zu lassen.

Ich möchte mich herzlich bei denen bedanken, die mich dazu bewegt haben,  http://www.hollywood-online-roman.de/ wieder zu aktivieren und weiterzuführen.

Monique Mayance, im Oktober 2011

Dreimal Hollywood und zurück



Monique Mayance


Dreimal Hollywood
und zurück


Even if you produce stuff,
that’s interesting to nobody
but yourself,
the activity justifies itself.

Viggo Mortensen


PROLOG



DIE KOFFERSCHLÖSSER rasten mit einem lauten Klacken ein, das ihr durch Mark und Bein geht. Sie holt tief Luft und schließt für einen Augenblick die Augen – als wolle sie daraus die Kraft schöpfen, das zu Ende zu bringen, was eigentlich schon vor langer Zeit zu Ende war. Mit steifem Rücken richtet sie sich auf. Sie schaut sich um, ob noch etwas herumliegt, das sie vergessen hat. Aber außer ihrer Jacke und ihrem Lederrucksack ist nichts mehr von ihr in dem Raum, der lange Jahre ihr Schlafzimmer war.
Ein Hauch von Wehmut überkommt sie – packt sie, nur für einen kleinen Moment und ruft ein komisches Gefühl im Bauch hervor. Das war’s also ... ihre Vergangenheit liegt vor ihr – verpackt in einen Koffer.
Im nächsten Moment huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie hat guten Grund sich auf das Kommende zu freuen. Reflexartig streicht sie mit der rechten Hand ihre Haare zurück, wuchtet den Koffer vom Bett und trägt ihn in den Flur. Die braunen langen Locken fallen ihr störrisch wieder ins Gesicht. Die Mähne nervt sie schon seit einiger Zeit. Immer mal wieder hat sie überlegt, sich die Haare kurz schneiden zu lassen. Aber alle Freunde und Verwandten hatte auf sie eingeredet, es bloß nicht zu tun, sobald sie darauf zu sprechen kam.
Irgendwann würde der richtige Zeitpunkt dafür gekommen sein. Sie ist überzeugt, dass sie instinktiv spüren wird, wenn er naht. Dann wird sie sich in die Gesellschaft der gepflegten Damen mittleren Alters mit den modischen Kurzhaarfrisuren begeben. Der Gedanke daran erschreckt sie. Aber noch ist sie weit von diesem Punkt entfernt.
Während sie unruhig in der Wohnung umher läuft, dabei wieder einmal nachschaut, ob die Kaffeemaschine aus und die Terrassentür zu ist, fragt sie sich zum x-ten Mal, ob sie wirklich das Richtige tut. In den vergangenen Monaten hat sie gegen jegliche Regeln der Vernunft verstoßen und viele Menschen verletzt – aber vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben hat sie das getan, was alleine für sie das Beste ist, ohne Rücksicht auf andere.
Es hupt draußen. Das Taxi. Sie winkt dem Fahrer am Fenster und bedeutet ihm, dass sie gleich kommen wird. Es bleibt ihr keine Zeit, ihre Gedanken weiter zu spinnen. Sie schaut sich noch einmal um, sieht die Fotos an der hellgelben Wand, die sie erst vor einem Jahr gestrichen hat. Ihr Blick bleibt an einem roten Spielzeugauto hängen, das Tom wieder entgegen aller Regeln im Wohnzimmer stehen gelassen hat. Normalerweise reagiert sie ärgerlich auf solche Verstöße, aber heute gelten die üblichen Regeln nicht mehr. In ihrem Kopf herrscht Chaos.
Fang jetzt ja nicht an zu heulen, du blöde Nuss, schimpft sie sich selbst als sie merkt, wie ihr die Tränen kommen, du hast es nicht anders gewollt. Entschlossen reißt sie ihren Blick los, nimmt den Koffer, ihre Jacke und den Rucksack und geht zum Taxi. Ihre restlichen Habseeligkeiten, verpackt in mehrere Kisten und Koffer, hat sie schon vor Tagen am Frankfurter Flughafen aufgegeben. Sie haben wohl schon ihr Ziel erreicht und warten darauf, in der Fremde wieder von ihr in Besitz genommen zu werden. Es hat etwas Beruhigendes zu wissen, dass dort schon etwas ist, was ihr vertraut ist.

Das Packen hatte ihr tagelang zu schaffen gemacht. Was nimmt man mit, wenn man ein neues Leben anfängt? Sie war kein Mensch, der sich gut von irgendetwas trennen konnte. So verbrachte sie Stunden damit darüber nachzudenken, ob sie diese oder jene Kleinigkeit mit hinüber in eine neue Zukunft retten sollte oder nicht.
Ihr altes rotes Tagebuch, das noch aus Teenager-Tagen stammte, fiel ihr beim Ausmisten in die Finger. Mit einer Haarnadel öffnete sie das Schlösschen. Der Schlüssel dazu war schon seit vielen Jahren verschwunden. Sie überflog Seiten mit der etwas krakeligen Mädchen-Handschrift, blieb an der einen oder anderen Stelle hängen und las ihre eigene Geschichte. Fast kam es ihr vor, als wäre es die Geschichte von jemand anderem, so lange war das alles her. An viele Sachen konnte sie sich gar nicht mehr erinnern. Aber andere waren in ihrem Gedächtnis, als wären sie erst gestern passiert.
Monatelang hatte sie täglich über einen Jungen geschrieben, in den sie unsterblich verliebt war. Jedes kleine Detail hatte sie festgehalten. Er hatte ihr immer wieder Hoffnungen gemacht, es war sogar einmal etwas zwischen ihnen gelaufen, ab und zu ein bisschen kutschen und fummeln – aber mit ihr gehen wollte er nicht. Sie war damals zutiefst verletzt gewesen, konnte es aber einfach nicht lassen, ihm weiter hinterher zu laufen. Jedes Lächeln, jedes Wort, gab ihr Anlass zu neuer Hoffnung. Es dauerte fast ein Jahr bis sie einsah, dass er nur mit ihr spielte. Andere Jungs und Männer kamen und gingen, aber vor einigen Jahren, als sie seinen Namen in einer Hochzeitsanzeige in der Zeitung las, dachte sie wieder mit Traurigkeit an ihre erste große Liebe zurück.
Sie brachte es nicht fertig, das Tagebuch in den Mülleimer zu werfen. Ebenso wenig wie die große Menge an Briefen von Menschen, die ihr einmal etwas bedeutet hatte. Beim Packen kramte sie diese wieder hervor, saß versunken im Chaos und las. Beim Lesen hatte sie das Gefühl, etwas Besonderes in den Händen zu halten. Wer schrieb heute schon noch Briefe?

Im Taxi muss sie sich beherrschen, nicht zurück zu blicken. Ihr Augenmerk sollte jetzt dem gelten, was vor ihr liegt. Trotzdem schleicht sich Tom in ihren Kopf. Sie hat das Abschiedszenario vom Morgen wieder vor Augen.
»Mami, warum kannst du denn nicht hier bleiben?«, hatte er sie schon wieder gefragt, während er seine Jacke anzog. Seine Augen schimmerten verdächtig, aber er wollte jetzt nicht vor seiner Mutter heulen. Auch sie musste die Tränen herunter schlucken.
»Tom, das habe ich dir doch alles erklärt.« Sie hatte ihn eindringlich angesehen. »Bald hast du Ferien, dann kommst du mich besuchen, ja? Und wir telefonieren jeden Tag, ich verspreche es! Denk daran, dass ich immer für dich da sein werde. Wenn etwas ist, kann ich in weniger als zwölf Stunden bei dir sein. Lass jetzt mal ein paar Wochen rumgehen und dann können wir in den Ferien darüber reden, ob du zu mir ziehst, ja? Machen wir’s so?«
»Okay, Mami. Aber vergiss nicht, mich jeden Tag anzurufen.«
»Natürlich nicht. Du bist das Erste, an das ich morgens denke. Du musst jetzt aber los, sonst kommst du zu spät zur Schule. Ich hab’ dich lieb, mein Schatz.«
Beim Umarmen konnte er die Tränen schließlich nicht mehr zurückhalten, er schniefte, wischte mit dem Ärmel über die Nase und ärgerte sich offensichtlich ein bisschen über sein Heulen. Auch ihr liefen die Tränen die Backen hinunter. Sie schwankte, eine Sekunde überlegte sie, alles rückgängig zu machen. Aber nein, das war unmöglich, vorbei. Außerdem wollte sie das auch gar nicht. Sie war fest überzeugt, dass dies ihre einzige Chance war, aus ihrem eingefahrenen Leben auszubrechen und noch mal von vorne anzufangen. Die wollte sie sich nicht entgehen lassen.
Sie redete sich ein, dass für Tom gut gesorgt war, und er in zwei, drei Jahren sicher sowieso nichts mehr von ihr wissen wollte, weil er nur mit seiner Klicke unterwegs sein würde. Vielleicht würden sie beide unter diesen Umständen aber auch ein viel besseres Verhältnis haben, weil sie die unweigerlich anstehenden Machtkämpfe nicht ausfechten und die Krisen in der Pubertät nicht durchstehen mussten? Und außerdem gab es ja auch die Möglichkeit, Tom zu sich zu holen, wenn sie selbst erst einmal in der neuen Welt Fuß gefasst hatte.
 Sie konnte sich noch so viel Positives einreden, ihr Gewissen ließ sich aber nicht auf stumm schalten. Es flüsterte immer wieder Rabenmutter, Rabenmutter, Rabenmutter …

Irgendwie ist sie froh, dass der Tag X nun endlich gekommen ist, an dem es keine Umkehr mehr gibt. Tom zurückzulassen fällt ihr nicht leicht, aber eigentlich hatte er immer ein viel besseres Verhältnis zu seinem Vater gehabt als zu ihr. Sie hatte sich immer eine Tochter gewünscht, doch ihr Mann hatte nach Tom keine Kinder mehr gewollt. Es war ihr immer schwer gefallen, mit Tom zu spielen, seiner Wildheit zu begegnen. Viel lieber hätte sie mit einem kleinen Mädchen Puppen angekleidet als mit einem wilden Burschen Autos durch die Gegend zu schieben oder Fußball zu spielen.
Die Bäume rasen an der Scheibe vorbei, durch die sie zum letzten Mal für lange Zeit die ihr so vertraute Umgebung sieht. Eigentlich nimmt sie die Umwelt nicht wirklich wahr, sieht nicht, dass das Laub sich bereits bunt gefärbt hat und dass die Sommerblumen am Ende ihrer Kräfte sind.
Ihre Gedanken kreisen jetzt um ihn.
Gestern Abend hatte er noch einmal angerufen um ihr zu sagen, wie sehr er sich auf sie freute. Kaum hatte sie seine Stimme am anderen Ende der Leitung gehört, waren alle Zweifel wie weggewischt. Zumindest für die nächsten Augenblicke. Die Freude darauf, ihn endlich wieder zu sehen, verdrängte alle negativen Gedanken.
Nur noch ein paar Stunden, denkt sie aufgeregt, während das Taxi mit 150 Sachen über die Autobahn braust. Beim Gedanken an ihre erste Begegnung mit ihm lächelt sie unwillkürlich vor sich hin, obwohl ihr heute gar nicht wirklich zum Lachen zu Mute ist.